In nichts zeigt sich der Mangel an mathematischer Bildung mehr als in einer übertrieben genauen Rechnung.
Carl Friedrich Gauß
Zur Zeit der Veröffentlichung dieses Posts sind die “RKI-Files” in aller Munde: es geht um die vom Online-Magazin Multipolar freigeklagten Sitzungs-Protokolle des Robert Koch Instituts von Januar 2020 bis April 2021.1 Auch wenn viele Stellen geschwärzt sind, scheint trotzdem klar zu sein, dass die Mitglieder des Krisenstabs intern häufig anderer Meinung waren als das, was schlussendlich in der Öffentlichkeit kommuniziert wurde. Somit stellt sich insgesamt die Frage inwieweit die Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung auf rein politischen Entscheidungen beruhten, und nicht wie man glauben würde wissenschaftlich begründet waren.
Dass es in Luxemburg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht viel anders ablief, hatten wir bereits im ersten Teil unser Serie Corona-Zeitkapsel aufgezeigt.2 Hierzulande fand die wissenschaftliche Beratung der Politik bekanntlich durch die COVID-19 Task Force statt. Diese gab am Donnerstag, den 7. Mai 2020 eine Pressekonferenz wo es hauptsächlich um die “Exit-Strategie” ging.
Sie begann um 11 Uhr vormittags und dauert insgesamt rund eindreiviertel Stunde. Die ersten 50 Minuten bestanden aus einer PowerPoint-Präsentation der Professoren Nehrbass, Krüger und Wilmes.3 In einem zweiten Teil konnten die anwesenden Journalisten dann ihre Fragen stellen. Hier kam zur Aussprache, dass die Regierung bereits am Sonntag durch einen “Policy Brief” über den Inhalt des Vortrags informiert worden war.4 Darüberhinaus war angeordnet worden, dass bis zur Pressekonferenz nichts hierzu publiziert werden sollte, was unter anderem dazu führte, dass die Abgeordneten sich nicht auf die am gleichen Tage anstehende Debatte im Parlament vorbereiten konnten.
Die Kernpunkte der Präsentation seien kurz zusammengefasst. Nach einer kurzen Einleitung zur Zusammensetzung der COVID-19 Task Force, wird die sogenannte “Proaktive Mitigierungs-Strategie” vorgestellt nach welcher in den nächsten Wochen verfahren werden wird. Man geht davon aus, dass das Virus sich immer noch verbreitet und dessen Ausbreitung deshalb “mitigiert”, also abgeschwächt werden muss. Konsequenterweise müssen alle Maßnahmen wie Social Distancing und Maskentragen weitergeführt werden. Um diese Phase zu verkürzen werden zusätzlich großflächig Tests in der Bevölkerung durchgeführt. Prof. Krüger stellt die CON-VINCE Studie mit den vorläufigen Resultaten vor: demnach beträgt die Prävalenz in Luxemburg 0,3% wobei die meisten positiv Getesteten “nur wenige oder gar keine Symptome” aufzeigen. Zum Schluss stellt Prof. Wilmes noch das Thema “Policy brief & Statistiken” vor. Es geht hier um das Monitoring der Pandemie sowie die verschiedenen Simulationen, welche durchgeführt wurden um die möglichen zukünftige Entwicklungen vorherzusagen.
Professor Nehrbass sagte zur Folie 8 der Power-Point:
Wo befinden wir uns im Pandemie ... in der Pandemie-Dynamik?
Der berühmte Rt-Wert ... der Rt-Wert liegt immer noch sehr knapp über 1, das heißt im Moment, auch unter den Maßnahmen des Lockdowns und der ... den Restriktions-Maßnahmen die derzeit noch in Kraft sind, steckt statistisch jede Person die infiziert ist eine weitere an. Das heißt das Pandemie-Geschehen ist flach, weil wir noch im Lockdown sind, aber man kann sich vorstellen dass wenn die Interaktion zunehmen, natürlich auch die Zahl der Leute, die man wird infizieren können, zunehmen wird. Im Moment allerdings aber noch einen Rt-Wert von 1 ... von 1,04.
Zum besseren Verständnis: zur Zeit der Pressekonferenz wurde in Luxemburg noch ausschließlich die sogenannte Netto-Reproduktionszahl Rt auf der Webseite Ministerium für Gesundheit: COVID-19 in Zahlen mit Internetadresse
https://msan.gouvernement.lu/de/graphiques-evolution.html veröffentlicht. Erst in der darauffolgenden Woche wurde zusätzlich die effektive Reproduktionszahl Reff publiziert. Erstere verlor schnell an Bedeutung und spielte im öffentlichen Diskurs bald keine Rolle mehr.
Der folgende Screenshot einer archivierten Version auf archive.is der genannten Webseite vom 10. Mai 2020 zeigt den Verlauf von Rt :5
Rt liegt für alle Tage im Mai um den Wert 1,00 und nur die obere Grenze des Konfidenzintervalls Rt + SD erreicht den Wert 1,04.
Dass die Kurve in der Grafik von Folie 8 somit um 0,04 nach oben verschoben wurde, zeigt die im Policy Brief vom 3. Mai abgebildete entsprechende Grafik noch viel deutlicher: hier wird im Gegensatz zur PowerPoint-Präsentation auch noch das Konfidenzintervall6 (hellblauer Bereich) gezeigt.
Somit ist klar, dass der in der Pressekonferenz gezeigteVerlauf von Rt gezielt mit höheren Werten dargestellt wurde als anderweitig veröffentlicht.
Ab etwa Minute 42 übernimmt Prof. Paul Wilmes von der uni.lu für den dritten Teil des Vortrags: Policy Brief & Statistiken. In der Folie 30 wird erneut der Verlauf der Reproduktionszahl Rt gezeigt.
Hier die dazu gegebenen Erklärungen seitens Prof. Wilmes (Hervorhebungen durch den Autor):
Di aner Saach déi mer absolut ëmmer am Kontext vum Monitoring eis virun Aen gehalen hunn ass: wéi gesäit et de Moment aus am Bezuch op .... also d’Iwwerdroung vum Virus an der Populatioun? An do ass eben di zäitofhängeg Reproduktiounszuel R oder Rt ausschlaggebend. Wat dir gesinn huet schonn an de virrechenten Folien, an ech wäert iech dat elo nach eng Kéier weisen ass datt mer de Moment am Bezuch op di zäitofhängeg Reproduktiounszuel, datt mer bei enger Zuel vun 1,04 sinn, dat heescht mir sinn nach ganz e bësschen iwwert 1, a wa mer elo di éischt Resultater vun der CON-VINCE-Etude eis ukucken, wéi am Fong den Duerchseuchungsgrad bannent der Populatioun ass, a wéi vill Leit nach an der Populatioun sinn déi suszeptibel si fir de Virus ze kréien, da kenne mer dorausser och di effektiv Reproduktiounszuel haut errechnen, an déi läit deementspriechend da bei 1,02. Dat heescht mir sinn nach ëmmer an engem Zenario, wou mindestens eng Persoun déi de Virus an sech dréit, enger anerer Persoun dee wäert iwwerdroen. Dat heescht mir sinn nach net an engem wierkleche konkreten Andämmungs-Zenario wou mer di Reproduktiounszuel ënnert 1 bruecht hätten. An deementspriechend ass et elo am Kontext vun den Deconfinements-Mesuren esou wichteg, datt d’Leit sech eben un di eenzel Moossnamen halen.
Die Netto-Reproduktionszahl wird als “ausschlaggebend” dargestellt: da sie über 1 liegt, ist man entsprechend noch nicht im Containment-Bereich, eine Mitigation durch entsprechende Maßnahmen ist demnach immer noch notwendig. Soweit also nichts neues, dies wurde ja bereits von Prof. Nehrbass so dargestellt.
Eine bis dahin noch nirgends veröffentlichte Information ist dagegen höchst bemerkenswert: die effektive Reproduktionszahl läßt sich aus der Netto-Reproduktionszahl berechnen, da man durch die CON-VINCE-Studie den Durchseuchungsgrad der Bevölkerung kennt: der aktuelle Wert für die effektive Reproduktionszahl soll dabei 1,02 betragen, welcher somit auch größer 1 ist. Unverständlich ist, dass eine solch entscheidende Aussage nur mündlich kommuniziert wird ohne dass eine entsprechenden Grafik gezeigt wird.
Insgesamt stellen sich auch in diesem Punkt wieder viele Fragen. Jedenfalls wurde 5 Tage nach der Pressekonferenz laut den Metadaten ein PDF-Dokument erstellt, welches die verschiedenen Reproduktionszahlen erklärte: Beschreibung der Reproduktionszahl R.7 Die folgende im PDF gezeigte Abbildung beschreibt dabei wohl die von Prof. Wilmes ausgeführte Berechnung der effektiven Reproduktionszahl aus der Netto-Reproduktionszahl mit Hilfe des Durchseuchungsgrades.
Die linke Grafik bestätigt in diesem Zusammenhang übrigens nochmals, dass die Netto-Reproduktionszahl ziemlich genau einen Wert von 1 hat, und die obere Grenze des Konfidenzintervalls bei 1,04 liegt.
In der rechten Grafik sieht man ebenso klar, dass die resultierende effektive Reproduktionszahl zum fraglichen Zeitpunkt, also Mai 2020, keinesfalls größer 1 war, sie lag sehr viel tiefer, um einen Wert von ca. 0,93.
In diesem Dokument wurde auch eine effektive Reproduktionszahl gezeigt, welche aus den Neuinfektionen hergeleitet worden war. Diese lag ebenfalls deutlich unter 1. Diese wurde übrigens ab diesem Zeitpunkt täglich auf der Webseite der Statistiken publiziert.
Hatte man zu spät bemerkt, dass man da doch etwas zu verschwenderisch mit diesen Informationen umgegangen war? Auf jeden Fall wurde das PDF laut Metadaten nur 3 Tage später aktualisiert.8 Diese Änderung bestand im wesentlichen darin, die beiden Abbildungen zu ersetzen. Die neuen Grafiken hatten dabei eine sehr viel grobere Auflösungung: das Ablesen genauer Werte auf der vertikalen Achse war dabei teilweise fast unmöglich gemacht worden. In Abbildung 1 war die Grafik der aus dem Durchseuchungsgrad berechneten effektiven Reproduktionszahl gänzlich verschwunden, einzig die nicht angepasste entsprechende Textstelle verriet noch dass hier etwas fehlte:
Die effektive durchschnittliche Anzahl Reff besagt wie viele Personen im Durchschnitt von einer infizierten Person infiziert werden. Hierfür muss der Rt-Wert anschließend durch die Immunisierungsrate in der Bevölkerung skaliert werden (Abb. 1).
Wer glaubt dass das Thema nun bereits erschöpfend behandelt wurde, muss leider enttäuscht werden. Irgendwann in den nächsten Wochen - ein genauer Zeitpunkt kann leider rückblickend nicht mehr genau angeben werden - wurde die Methode zur Berechnung der Netto-Reproduktionszahl offensichtlich grundlegend revidiert. In einer archivierten Version der Webseite der Statistiken vom 17. Juli 2020 wird der folgende Verlauf angezeigt.9
Der aktualisierte Wert am Tage der Pressekonferenz beträgt jetzt 0,767 ! So gesehen hätte die gesamte Exit-Strategie re-evaluiert werden müssen. Auch zeigt dies rückblickend, dass es sich bei der Angabe der Netto-Reproduktionszahl auf der Pressekonferenz mit 2 Nachkommastellen um eine bloße Scheingenauigkeit10 gehandelt hat.
In diesem Zusammenhang gibt es im übrigen eine interessante Parallele zu den “RKI-Files”, zudem auch noch fast zeitgleich mit der Pressekonferenz, nämlich in dem Protokoll vom 6. Mai 2020. Die Angabe der Reproduktionszahl auf 2 Stellen hinter dem Komma erfolgte auf Anweisung des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn. Das RKI hätte von sich aus diesen Wert nur in 0,5er Schritten mitgeteilt, also: 0,5 / 1,0 / 1,5 usw.11
Der weitere Verlauf dieser Kennzahl über die nächsten Jahre wirft ebenfalls Fragen auf. Beim letzten Stand vom 30. März 2023 war die Netto-Reproduktionszahl auf über 6 angewachsen!12 Eine Woche vorher waren die letzten COVID-Maßnahmen abgeschafft worden.13 Die Werte im Mai 2020 zählten in diesem 3-Jahres-Zeitraum zu den niedrigsten.
Zusammenfassung
Zunächst rechtfertigt man die Fortführung des Social Distancing und des Maskentragens mit einem Wert der Netto-Reproduktionszahl Rt welcher fälschlicherweise höher angegeben wird als in den öffentlichen Statistiken.
Dann wird eine zweite Kenngröße (effektive Reproduktionszahl) hieraus abgleitet, dessen Wert - ebenfalls wieder höher - nicht demjenigen entspricht der 5 Tage später in einem anderen Dokument von Research Luxembourg veröffentlicht wurde, um kurze Zeit später dort wieder gelöscht zu werden.
Einige Zeit später wird dann die gesamte Berechnung der Netto-Reproduktionszahl über den Haufen geworfen mit dem Resultat, dass der Wert für den fraglichen Zeitpunkt wesentlich geringer ausfällt und deutlich unter 1 liegt, ohne dass hierauf rückwirkend reagiert wird.
Schlussendlich endet die “Pandemie”, als ein Vielfaches des Wertes im Vergleich zum Zeitpunkt der Pressekonferenz der Netto-Reproduktionszahl Rt erreicht wird, was erst recht die Relevanz dieses Kennwertes bei der Einschätzung einer “Pandemie-Dynamik” in Frage stellen sollte.
Epilog
In einem Artikel des ARD-faktenfinders zu den eingangs erwähnten “RKI-Files” lesen wir:14
Deutschland habe mit der Entscheidung, die Risikobewertung hochzustufen, somit ohnehin nicht alleine dagestanden, so Zeeb. "Das sind internationale Abstimmungen, oft auf Weltbevölkerungsniveau wie bei der WHO. Und da kann ein Land wie Deutschland nicht plötzlich sagen: Nein, wir finden das aber alles anders."
Wie sollte in Anbetracht dieser Feststellung ein kleines Land wie Luxemburg in diesem Zusammenhang eine souveräne Entscheidung treffen können? Nur sollte man das dann auch offen kommunizieren, und nicht die hiesigen Daten an politische Agenden “anpassen”.
Multipolar (20.03.2024): Mehr als tausend Passagen geschwärzt: Multipolar veröffentlicht freigeklagte RKI-Protokolle im Original
https://multipolar-magazin.de/artikel/rki-protokolle-2
Research Luxembourg (03.05.2020): Policy brief: Beitrag der luxemburgischen Forschung zu Luxemburgs EXIT-Strategie im Rahmen der COVID-19 Pandemie
https://www.researchluxembourg.org/wp-content/uploads/2020/05/200507_Proaktive-Einda%CC%88mmungs-Programm_DE.pdf
Ministerium für Gesundheit: COVID-19 in Zahlen, archiviert am 10. Mai 2020
https://archive.is/6N3gT
Research Luxembourg: Beschreibung der Reproduktionszahl R, archiviert am 13. Mai 2020
https://web.archive.org/web/20200513141301/https://msan.gouvernement.lu/dam-assets/covid-19/graph/Beschreibung-Reproduktionszahl.pdf
Research Luxembourg: Beschreibung der Reproduktionszahl R, archiviert am 18. Mai 2020
https://web.archive.org/web/20200518024825/https://msan.gouvernement.lu/dam-assets/covid-19/graph/Beschreibung-Reproduktionszahl.pdf
Ministerium für Gesundheit: COVID-19 in Zahlen, archiviert am 17. Juli 2020
https://web.archive.org/web/20200717134005/https://msan.gouvernement.lu/de/graphiques-evolution.html
“Unter Scheingenauigkeit oder Pseudogenauigkeit versteht man in Statistik und Naturwissenschaften die Erfassung oder Darstellung von Daten oder Ergebnissen mit einer Auflösung, die die zugrundeliegenden Messungen oder Daten gar nicht hergeben.”
https://de.wikipedia.org/wiki/Scheingenauigkeit
Robert Koch Institut, Protokoll des COVID-19-Krisenstabs, 6. Mai 2020
https://my.hidrive.com/share/2-hpbu3.3u#$/
Coronavirus - Informations officielles - Luxembourg: Graphiques
https://covid19.public.lu/fr/graph.html
Loi du 24 mars 2023 portant modification de la loi modifiée du 17 juillet 2020 sur les mesures de lutte contre la pandémie Covid-19.
https://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/2023/03/24/a169/jo